Organoide: Was sind Organoide und wie helfen sie der regenerativen Medizin?
Die Forschung an Stammzellen und Entwicklungsbiologie haben es ermöglicht, im Labor kleine Gewebestücke, so genannte Organoide, herzustellen. Die Wissenschaftler haben Organoide geschaffen, die vielen Organen, von der Leber über die Niere bis zum Gehirn, sehr ähnlich sind. Was lernen Forscher aus der Züchtung von Organoiden? Wie helfen sie der regenerativen Medizin?
Aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit oder ethischer Bedenken ist es oftmals schwierig, menschliches Gewebe zu erhalten, um die Entwicklung bzw. Erkrankungen von Organen zu erforschen. Organoide bieten Wissenschaftlern neue Alternativen und Möglichkeiten für die moderne Forschung.
Mit Hilfe von Organoiden lassen sich die komplexen Anordnungen und Interaktionen von Zellen im dreidimensionalen Raum untersuchen, was bei den meisten anderen Versuchsmodellen nicht möglich ist.
Organoide dienen bereits dazu, Krankheiten zu untersuchen, neue Medikamente zu entwickeln und etwas darüber zu erfahren, wie sich Zellen zu Organen zusammenschließen.
Die Wissenschaftler erforschen, wie sich Organoide für eine breite Palette an Humangeweben erzeugen lassen. Die Entwicklung von Verfahren zur Herstellung von Organoiden befindet sich noch immer im Anfangsstadium, und viele Gewebe müssen erst noch erfolgreich als Organoide erzeugt werden.
Der Schlüssel zur Herstellung von Organoiden im Labor ist die Identifizierung der notwendigen Wachstumsbedingungen. Dazu gehören physische Strukturen, auf denen sie wachsen können, und externe Wachstumsfaktoren.
Organoide werden derzeit darauf getestet, ob sie gesunde neue Zellen und Gewebe für die moderne regenerative Medizin liefern können.
Mit Hilfe von Organoiden, die aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) eines Patienten erzeugt werden, ließen sich personalisierte Medikamente entwickeln. Außerdem könnten medizinische Behandlungen vorab an Organoiden anstatt direkt am Menschen getestet werden.
Die meisten Organoide enthalten lediglich einen Teil der Zellen eines tatsächlichen Organs. Um hundertprozentig funktionelle und stabile Gewebe zu erzeugen, müssen Möglichkeiten entwickelt werden, um andere Zellsysteme, wie beispielsweise das Gefäßsystem, in Organoide zu integrieren.
Der Prozess, Krankheiten in Organoiden zu reproduzieren, verläuft nicht immer geradlinig. Dennoch lassen sich dadurch wahrscheinlich bedeutsame, bislang wenig bekannte Krankheitsaspekte aufdecken.
Zwar bieten Organoide den Forschern zahlreiche Vorteile und Möglichkeiten, doch sie weisen auch Einschränkungen auf und werden andere experimentelle Systeme nicht zur Gänze ersetzen können.
Bei Organoiden handelt es sich um im Labor gezüchtete Zellgruppen, die sich selbst zu Zellstrukturen organisiert haben, die denen von Organen gleichen. Die Bezeichnung „Organoid“ bedeutet „organartig“. In vielen Fällen verleihen die Zellen und Zellstrukturen Organoiden Fähigkeiten, die denen der Organe, denen sie ähneln, entsprechen. Hirnorganoide beispielsweise entwickeln Schichten von Nervenzellen (Neuronen) mit einer Signalaktivität und sogar „Gehirnregionen“, die Bereichen des menschlichen Gehirns gleichen. Aktuell können von Forschern erzeugte Organoide zwar in bestimmten Aspekten eine starke Ähnlichkeit mit einem voll ausgereiften Organ aufweisen, dennoch bestehen entscheidende Unterschiede. Darmorganoide besitzen eine Vielzahl von Zellstrukturen, die Teilen der Darmschleimhaut ähneln, haben aber typischerweise die Größe einer Erbse und sind also nicht annähernd so groß oder komplex wie unser Darmtrakt. Doch obwohl sie klein sind bzw. nicht zu hundert Prozent ganzen Organen entsprechen, können Wissenschaftler viel von Organoiden lernen. In der Fachwelt ist man der Ansicht, dass Organoide die „nächste Generation“ biologischer Tools für Forschung, Medikamentenentwicklung und Medizin darstellen.
Stammzellen bilden den Ausgangspunkt für die Herstellung von Organoiden. Forscher verwenden dabei unterschiedliche Arten von Stammzellen, je nachdem, was für einen Typ Organoid sie herstellen möchten. Es kommen pluripotente Stammzellen, beispielsweise embryonale Stammzellen (ESCs), und induzierte pluripotente Stammzellen (iPSCs) sowie aus Organen des Patienten gewonnene Stammzellen, sogenannte Gewebestammzellen oder adulte somatische Stammzellen (ASCs), zum Einsatz. Unterschiedliche Stammzellen verfügen über unterschiedliche Fähigkeiten und Beschränkungen und unterscheiden sich bezüglich ihrer Voraussetzungen für ihr Wachstum. (Erfahren Sie mehr über die verschiedenen Stammzellen.) Zur Herstellung von Organoiden arbeiten Forscher mit Stammzellen, die spezielle Wachstumseigenschaften aufweisen. Hierfür sind unter Umständen ganz bestimmte Nährstoffe, Wachstumsfaktoren, Signalmoleküle und physische Umgebungen (beispielsweise Proteinmaterial, auf dem sie wachsen können) erforderlich. Bei den Verfahren zur Herstellung von Organoiden müssen Komponenten oftmals in einer bestimmten Reihenfolge und zu bestimmten Zeitpunkten hinzugefügt werden. Die Wachstumsbedingungen begünstigen die Vermehrung und Umwandlung („Differenzierung“) der Stammzellen in die zahlreichen Zelltypen, die für das Organ, dem die Organoide gleichen, typisch sind. Zudem können sich die von den Stammzellen produzierten Zellen selbst zu Zellstrukturen organisieren. Nieren-Organoide beispielsweise besitzen Zellen, die sich wie typische Nierenzellen verhalten und so organisiert sind, dass sie „Röhrchen“ bilden, wie sie auch die Niere aufweist. Das Schwierigste bei der Erzeugung eines Organoide liegt also darin, die genauen Bedingungen herauszufinden, welche die Stammzellen stimulieren und fördern. (Diese Aufgabe ist nicht einfach, oftmals dauert die Forschung jahrelang.) Finden die Stammzellen diese Bedingungen vor, vermehren sie sich, differenzieren, erzeugen zellbasierte Strukturen und bilden die Organoide ohne fremde Hilfe.
Wissenschaftler erzeugen und nutzen Organoide aus verschiedenen Gründen. Bei dem Versuch, Organoide herzustellen, die realen Organen möglichst ähnlich sind, lernen sie, welche externen Faktoren Stammzellen veranlassen, während des Wachstums und der Entwicklung spezielle Organe zu bilden. Doch dies ist erst der Anfang. Sobald eine starke Ähnlichkeit zwischen einem Organoid und einem Organ belegt werden kann, dient dieses Organoid dazu, zahlreiche andere Aspekte in Bezug auf die Entwicklung von Organen, ihre Erkrankungen, ihre Zellsignalgebung etc. zu erforschen. Neben den externen Signalen, die Stammzellen empfangen, untersuchen die Wissenschaftler aber auch die zahlreichen internen Signale, Proteine und Gene, die von ausschlaggebender Bedeutung dafür sind, dass die Zellen ein ganzes Organ bilden können. Diese Faktoren sind wichtig, wenn es darum geht zu verstehen, wie eine Mutation in einem Gen zu einer genetisch bedingten Krankheit (Erbkrankheit) führt. Die Untersuchung von Darmorganoiden, die von sechs Patienten mit einer Darmerkrankung (multiple Darmatresie) stammten, führte beispielsweise zur Entdeckung eines für die Darmentstehung wichtigen Gens. Sie zeigte, dass alle sechs Patienten Mutationen in einem einzelnen Gen aufwiesen, die bewirkten, dass ihre Darmstammzellen im Labor keine „gesunden“ Organoide erzeugen konnten. Weiterhin konnten die Forscher herausfinden, welchen Signalweg das mutierte Protein in Stammzellen beeinträchtigt. Organoide erlauben außerdem die Erforschung von Infektionskrankheiten in einer Weise, die bislang nicht möglich war. Anhand von Hirnorganoiden wurde untersucht, welche Auswirkungen das ZIKA-Virus auf die Entwicklung des Gehirns hat und wie es eine Mikroenzephalie auslöst. Aus offenkundigen ethischen Gründen lässt sich dies nicht an menschlichem Hirngewebe studieren. In anderen Fällen bieten Organoide bessere Möglichkeiten der Erforschung viral, bakteriell und parasitär bedingter Infektionen, als dies mit früheren Methoden möglich war. Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung des Lebenszyklus von Cryptosporidium, einem Parasiten, der eine landläufig als „Crypto“ bezeichnete Durchfallerkrankung auslöst. Organoide erweisen sich derzeit bei der Entdeckung zahlreicher verschiedener Aspekte in Bezug auf menschliche Entwicklungsprozesse und Krankheiten als äußerst hilfreich.
Zwar stehen momentan mehr als einem Dutzend verschiedener Organe des Körpers gleichende Organoide zur Verfügung, doch man darf nicht vergessen, dass ihre Herstellung erst seit relativ kurzer Zeit möglich ist. Wissenschaftler arbeiten noch immer daran, Verfahren zur Herstellung von Organoiden aus zahlreichen anderen Geweben und Organen zu entwickeln. Das braucht seine Zeit. Man möchte jedoch nicht nur die Organoid-Vielfalt erhöhen, sondern versucht auch kontinuierlich die Organoide so zu gestalten, dass sie noch mehr wie tatsächliches Organgewebe aussehen. Je genauer Organoide reale Organgewebe darstellen, umso präzisere Daten liefern sie den Forschern.
Aktuell sind Vorstellungen von im Labor gezüchtete Gewebe und Organe zur medizinischen Transplantation Science Fiction. Organoide gelten aber als der allererste Schritt in diese Richtung. Wenn im Labor hergestellte Gewebe in der Medizin zum Einsatz kommen sollen, ist es von entscheidender Bedeutung zu belegen, dass sie realen Organen stark ähneln (oder noch besser genau entsprechen). Wissenschaftler weisen darauf hin, dass einer der größten Vorteile von im Labor gezüchtetem Gewebe darin besteht, dass sich mit Hilfe genetischer Werkzeuge Zellen verändern und genetische Mutationen, die eine Krankheit überhaupt erst auslösen, entfernen lassen. Zwar wirft die Veränderung des genetischen Codes natürlich ethische Fragen auf, doch könnten den Patienten auf diese Weise langfristige medizinische Lösungen geboten werden. Die Wissenschaftler untersuchen derzeit die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Transplantation von organoid-erzeugtem Gewebe bei Tieren. Es wird wahrscheinlich noch Jahre dauern, bis ein solches Verfahren beim Menschen angewendet wird, und noch sehr viel länger, bis vollständig funktionelle Organe für die Transplantation gezüchtet werden können.
Ein anderer Bereich, in dem Organoide zur Anwendung kommen, ist die Krebsforschung. Da viele Krebsarten Zellen aufweisen, die sich wie Stammzellen verhalten, setzen Forscher diese Zellen für die Erzeugung von Krebsorganoiden ein. Für die Züchtung von Organoiden, die im Labor Tumoren, beispielsweise ein Prostatakarzinom, entwickeln, werden Zellen verschiedener Krebspatienten verwendet. Indem sie Minitumoren züchten, die als Modell für verschiedene Krebsarten dienen, können Forscher das Tumorwachstum im Detail analysieren. Sie hoffen dabei Erkenntnisse über die Gene, Proteine und Signalwege von Krebszellen zu gewinnen und neue Möglichkeiten zu finden, das Wachstum oder die Metastasierung (Streuung der Tumorzellen im Körper) von Tumoren zu stoppen. Einen etwas anderen Ansatz verfolgen die Wissenschaftler, um zu erforschen, welche Genmutationen bewirken, dass gesunde Organoide Tumoren entwickeln. Dieser Ansatz erweist sich auch als sehr hilfreich, wenn es gilt aufzuklären, welche Gene und Signalwege für das Krebswachstum von Bedeutung sind, und kann Anhaltspunkte dafür liefern, welche Gene Organe vor Krebs schützen und welche Mechanismen möglicherweise bei Krebspatienten defekt sind.
Zu guter Letzt setzen Forscher Organoide ein, um das Tempo der Forschung allgemein zu beschleunigen. Die meisten Organoide sind klein, sodass sie sich leicht und schnell in großen Mengen erzeugen lassen. Kombiniert man diesen Vorzug mit modernen Hochdurchsatz-Screening-Verfahren, können Hunderte von Proben gleichzeig getestet und verglichen werden. Da Organoide als Modell für gesunde und erkrankte Organe sowie für Krebserkrankungen dienen, könnten sich diese Hochdurchsatz-Technologien möglicherweise zu einem sehr leistungsfähigen Tool für Forscher entwickeln, um in kurzer Zeit neue Medikamente, medizinische Behandlungen etc. zu testen.
Organoide werden wahrscheinlich noch verschiedenste Auswirkungen auf Forschung und Medizin haben. Welche, das bleibt abzuwarten.
The Ethics of Brain Organoids - interview with bio-ethicist Sarah Chan
Sanger Institute - Organoids: Cancer in 3D – a YouTube video on cancer organoids
ISSCR – Organoids: What is the Science and What are the Clinical Applications? – a YouTube video of a lecture on brain organoids
TEDx Talk – How We Are Growing Organs in the Lab? – a YouTube video by Dr Jim Wells
ASCB – What’s it all about? Organoids – an article on organoids by the American Society for Cell Biology
HSC – Organoids: A new window into disease, development and discovery – an article on organoids by Harvard Stem Cell Institute
Use and application of 3D-organoid technology – A short review of scientific literature that discusses organoids and their use in research and medicine
Dieses Factsheet wurde von Ryan Lewis erstellt.
2019 überprüft von Jürgen Knoblich.
Die deutsche Übersetzung wurde im Auftrag vom German Stem Cell Network (GSCN).
Copyright der Abbildungen: Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (IMBA)