Motoneuron-Krankheit: wie können Stammzellen helfen?
Die Motoneuron-Krankheit (MND) steht eigentlich für eine Gruppe von seltenen, aber schwerwiegenden neurodegenerativen (die Nervenzellen schädigenden) Erkrankungen. Derzeit gibt es keine Behandlungen, die ein Fortschreiten dieser Krankheiten aufhalten können. Eine zugelassene Behandlungsmethode ist zwar in der Lage, das Leben der Patienten zu verlängern, allerdings nur um einige wenige Monate. Es werden dringend neue und effiziente therapeutische Ansätze gebraucht, die den Krankheitsverlauf ändern oder stoppen und den zugefügten Schaden rückgängig machen können. Wie könnten Stammzellen helfen?
Mehrere verschiedene Krankheiten, ausgelöst durch Schäden an Nervenzellen (Neuronen), die unsere Muskeln steuern, werden kollektiv als Motoneuron-Krankheit (MND) bezeichnet. Derzeitig gibt es für MND keine Heilung, so daß die meisten Behandlungen auf die Linderung der Symptome, und somit die Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen, abzielen.
Ungefähr 10% der Fälle von MND werden von den Eltern auf ihre Kinder vererbt. Der Auslöser für die meisten Fälle der MND (90%) ist zur Zeit noch unbekannt.
Es gibt viele Zellen im Gehirn, die die Neuronen versorgen und bei ihrer Funktion unterstützen. Immer mehr weist darauf hin, daß Motoneurone für Schäden anfällig werden, wenn die sie unterstützenden Zellen funktionsunfähig werden.
Wissenschaftler verwenden Stammzellen, um Methoden zu entwickeln, mit deren Hilfe sie Neurone und andere Zellen in Petrischalen wachsen lassen können um so MND zu simulieren (oder ”zu modellieren”). Dies hilft Wissenschaftlern enorm dabei, die Ursachen von Nervenschäden, und wie man diese verhindern könnte, zu untersuchen. Stammzellsysteme eignen sich zudem sehr gut für die Suche nach neuen Medikamenten und die Überprüfung der Sicherheit und Wirksamkeit neuer Behandlungen.
Stammzellen werden auch für die Behandlung von Menschen mit MND entwickelt. Stammzellen könnten vielleicht dabei helfen, schädliche Immunreaktionen zu regulieren oder sogar Wachstumsfaktoren zu produzieren, die den Neuronen helfen, zu überleben und sich selbst zu reparieren.
Wissenschaftler wissen relative wenig über MND, weil diese Erkrankung so komplex und vielschichtig ist. Diese Komplexität bedeutet auch, dass MND-Behandlungen viele Veränderungen im Körper gleichzeitig beheben müssen, um effektiv weitere Schäden des Nervensystems zu vermeiden.
Die durch MND verursachten Schäden zu reparieren wird eine noch größere Herausforderung darstellen. Wissenschaftler untersuchen Möglichkeiten, wie Stammzellen zur Reparatur des Nervensystems genutzt werden könnten, indem sie neue Neurone und unterstützende Zellen erzeugen. Um die Funktion vollständig wiederherzustellen, müssen sich diese neuen Zellen auch richtig in das Netzwerk der Zellen integrieren, aus denen das Nervensystem besteht.
Die Motoneuron-Krankheit (MND) umfasst eine Gruppe von Krankheiten, die Zellen des Nervensystems betreffen. Schlussendlich führt sie dazu, dass die Zellen, welche die motorischen Nervenbahnen bilden - die sogenannten Motoneurone - degenerieren. Motorische Nervenbahnen erzeugen und steuern Bewegungen, indem sie elektrische Signale von Motoneuronen des Gehirns und des Rückenmarks über Synapsen (Verbindungen) mit peripheren Motoneuronen an Muskeln weiterleiten. Periphere Motoneurone übertragen Signale vom Gehirn zu den Muskeln über eine spezielle Synapse, die motorische Endplatte genannt wird. Im Falle von MND werden Motoneurone befallen und sterben ab, was zu einer fortschreitenden Lähmung führt. Es gibt vier Hauptarten von MND, welche die motorischen Nervenbahnen des zentralen und peripheren Nervensystems (ZNS und PNS; auch “oberes” beziehungsweise “unteres” Motoneuron genannt) unterschiedlich betreffen. Menschen die von MND betroffen sind, können daher eine ganze Reihe von Symptomen haben, unter anderem Muskelschwäche, Muskelsteifheit und Schwierigkeiten beim Sprechen, beim Schlucken oder sogar beim Atmen. Üblicherweise beginnen die Muskeln mit der Zeit zu schwinden, was die Symptome zunehmend verschlimmert. Zwischen den verschiedenen Formen von MND gibt es große klinische Überschneidungen, was die Diagnose eines bestimmten Typs bei vielen von dieser Erkrankung betroffenen Menschen erschwert. Die häufigste Form von MND bei Erwachsenen ist die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Diese Krankheit betrifft sowohl das ZNS als auch das PNS und macht etwa 60-70% aller Fälle aus. In den USA ist ALS üblicherweise als “Lou Gehrig’s Krankheit” bekannt und betrifft etwa 7 von 100.000 Menschen.
Manche Formen von MND sind erblich oder “familiär”. Dies bedeutet, dass sie genetisch von einer Generation zur nächsten übertragen werden. Ungefähr 10% der ALS-Fälle fallen in diese Kategorie und werden ”familiäre” ALS genannt. Es wurde herausgefunden, dass die erste “genetische” Form von ALS durch eine Mutation desjenigen Gens entsteht, das für das Enzym Superoxiddismutase 1 (SOD1) kodiert. Das klinische Erscheinungsbild von Betroffenen, die diese Mutation tragen, ist sehr ähnlich zu dem von Betroffenen, bei denen keine genetische oder eine andere Ursache festgestellt wurde (”sporadische” ALS). Dies legt nahe, dass bei beiden Formen ähnliche Mechanismen beim Fortschreiten der Krankheit vonstatten gehen. Seit dieser Entdeckung wurden viele weitere Mutationen identifiziert, die ALS auslösen. Diese Mutationen liegen sowohl im Gen für SOD1, als auch in ungefähr einem Dutzend anderer Gene und führten dazu, dass sich eine Vielzahl von Hypothesen darüber herausgebildet haben, wie sich die Krankheit entwickelt. Generell brechen die erblichen Formen von ALS früher aus, wohingegen sporadische Fälle von ALS in jeder Altersgruppe auftreten können. Interessanterweise entsteht auch eine ähnliche Krankheit wie ALS bei Hunden, bekannt als degenerative Myelopathie großer Hunderassen (CDM), durch eine Mutation in SOD1. Der Hund könnte also ein wichtiges Puzzleteil darstellen, das zum Verständnis der Mechanismen von ALS und der Behandlung beitragen könnte, da die Krankheit bei Hunden auf natürliche Weise entsteht und Hund und Mensch den gleichen Umwelteinflüssen und Lebensgewohnheiten ausgesetzt sind.
Die große Mehrzahl der Menschen mit MND hat eine sporadische oder nicht-erbliche Form der Krankheit. Man nimmt an, dass hierbei eine Kombination an Genveränderungen und die Umgebung des Betroffenen zusammenspielen. Welche Umweltfaktoren speziell einen Einfluss haben können, wurde noch nicht erwiesen. Wissenschaftler nehmen an, dass motorische Bahnen nicht nur aufgrund von Veränderungen in einzelnen Zellen aufhören zu arbeiten, sondern auch weil unterstützende Zellen in der Umgebung geschädigt sind. Immer mehr deutet darauf hin, dass diese anderen Zellen des Nervensystems, die sogenannten Gliazellen, eine kritische Rolle für Gesundheit und Krankheit spielen. Im ZNS machen Astrozyten, Oligodendrozyten und Mikroglia die Mehrheit der Gliazellen aus. Diese Zellen haben jeweils viele unterschiedliche Funktionen, von denen derzeit nur einige gut verstanden werden. Mikroglia stellen zum Beispiel die Immunzellen des ZNS dar, während Oligodendrozyten für die Bildung der Myelin-Hülle zuständig sind, die Nervenfortsätze umhüllt, um eine schnelle Weiterleitung elektrischer Signale zu gewährleisten. Im PNS nehmen Schwann-Zellen die Rolle der Oligodendrozyten wahr. Die Gliazellen reagieren zwar rasch auf Verletzung der Nervenzellen, möglicherweise ist ihre Reaktion aber nicht immer wünschenswert. Genauso können dysfunktionale Gliazellen aufgrund ihrer unterstützenden Funktion Nervenzellen anfällig für Verletzungen machen. Es gibt Hinweise darauf, dass die ersten Krankheitszeichen an der motorischen Endplatte auftreten, dem Ort an dem Motoneurone mit dem Muskel in Verbindung treten. Der Abbau an der motorischen Endplatte findet vor dem Einsetzen von Symptomen statt und breitet sich von dort über das PNS und das ZNS aus. Es besteht die Möglichkeit, dass ein frühzeitiges Eingreifen an der motorischen Endplatte den fortschreitenden Abbau verzögern oder verhindern könnte.
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es für keine der Formen von MND ein Heilmittel. Derzeitige Therapieansätze konzentrieren sich darauf, die Symptome zu lindern oder technische und funktionale Hilfsmittel zur Steigerung der Lebensqualität zur Verfügung zu stellen (z.B. “Speak Unique”). Seit Juni 1996 ist in den Ländern der europäischen Union der Wirkstoff Riluzol zur Behandlung von ALS zugelassen. Derzeit ist noch nicht bekannt, welche der vielen Wirkungsweisen von Riluzol bei ALS nutzbringend sind. Abgesehen davon sind die Effekte sehr begrenzt und verlängern das Überleben lediglich um 2-3 Monate. Wissenschaftler und Ärzte suchen tatkräftig nach wirksameren Behandlungsmethoden.
Die Wissenschaft hat im letzten Jahrzehnt viel zum Fortschritt der MND-Forschung beigetragen aber im Moment weiß man relativ wenig darüber, wie und warum die motorischen Bahnen bei MND degenerieren. Viele verschiedene Faktoren scheinen an der Entstehung und dem Fortschreiten von MND beteiligt zu sein. Ein effektiver therapeutischer Ansatz müsste die meisten, wenn nicht sogar alle, schädlichen Veränderungen angehen, die gleichzeitig im Körper vonstatten gehen. Wahrscheinlich ist also eine Kombination von Behandlungen nötig, um dem Fortschreiten der Krankheit Einhalt zu gebieten. Eine viel schwerere Aufgabe wird sein, Behandlungen zu finden, die das beschädigte Nervensystem reparieren und die Symptome rückgängig machen können.
Wissenschaftler benutzen menschliche Stammzellen, um MND “in der Petrischale” zu simulieren. Damit verfolgen sie das Ziel, mehr über die zellulären und molekularen Mechanismen herauszufinden, die MND zu Grunde liegen. Diese Modelle können auch dazu genutzt werden, um neue Behandlungsmethoden zu screenen. Die Wissenschaftler untersuchen auch, ob diese humanen Stammzellen selbst therapeutisch genutzt werden könnten. Es gibt mehrere Arten von Stammzellen, die verschiedene Möglichkeiten zur Forschung und Behandlung bieten.
1. Die Verwendung von Stammzell-abgeleiteten Systemen zum Studium und Verständnis von MND
Die von MND betroffenen Zellen liegen innerhalb des Nervensystems, das schwer zugänglich ist. Das bedeutet, daß die Untersuchung von MND in Betroffenen eine große Herausforderung darstellt. Zudem sind die Möglichkeiten, Proben geschädigter Zellen zur genaueren Untersuchung im Labor zu gewinnen, limitiert. Ursprünglich konzentrierte man sich auf die Nutzung embryonaler Stammzellen zur Untersuchung der Krankheit. 2008 nutzte ein Team von Wissenschaftlern der Harvard-Universität in den USA Hautzellen eines ALS-Betroffenen, um dieses Problem anzugehen. Die Wissenschaftler wandelten die Hautzellen zuerst in induzierte pluripotente Stammzellen (iPS Zellen) um. Dies sind Zellen, die künstlich zu pluripotenten Stammzellen (das bedeutet Zellen, die sich selbst erneuern, als auch jeden anderen Zelltyp des Körpers bilden können) reprogrammiert wurden. Aus diesen iPS Zellen wurden dann Motoneurone hergestellen, was eine völlig neue Möglichkeit eröffnet, krankheitsrelevante menschliche Zellen zur Untersuchung von ALS zu nutzen. Mit einer ähnlichen Methode gelang es Wissenschaftlern der Universität Edinburgh, im Labor Motoneurone von einer Person zu generieren, die eine zu ALS führende Mutation trug. Diese Motoneurone starben viel schneller als Motoneurone, die aus der Haut eines gesunden Spenders gewonnen wurden, waren also in der Lage, ALS in der Petrischale nachzuahmen.
iPS Zell-abgeleitete Modellsysteme stellen ein wirkungsvolles Mittel zur Untersuchung von menschlichen Zellen im Krankheitskontext dar. Mit ihrer Hilfe können neue mechanistische Details über den Krankheitsverlauf entdeckt und untersucht werden, wie sich verschiedene Zellen des Nervensystems gegenseitig beeinflussen. Indem sie Gliazellen aus iPS Zellen herstellen und alleine oder zusammen mit Motoneuronen wachsen lassen, können Wissenschaftler damit beginnen herauszufinden, welche Rolle die Gliazellen in MND spielen und ob sie zu Therapiezwecken eingesetzt werden könnten. Darüber hinaus lassen sich durch das gemeinsame Züchten von Motoneurone mit Muskelzellen motorische Endplatten “in der Petrischale” herstellen. Dies wiederum erlaubt die Untersuchung, wie die Signale zwischen Nervenzellen und Muskeln gestört werden, um dann möglicherweise Wege zu finden, Signale in MND zu verstärken und zu erhalten. Ein wichtiger Vorteil der iPS Zell-Technologie besteht schließlich darin, dass Zellen von Menschen mit unterschiedlichen Formen der MND gewonnen werden können, um die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen diesen Erkrankungen, die möglicherweise spezifische Behandlungspläne erfordern, besser zu verstehen. Die iPS-Technologie könnte auch angewandt werden, um ähnliche Krankheiten in anderen Spezien zu untersuchen, zum Beispiel der CDM in Hunden. Obwohl dieses Potential erst noch gezeigt werden muss, könnte dies eine ethisch vertretbare Anwendung sein, um Entdeckungen vom Labor in die Klinik zu bringen.
2. Die Verwendung von Stammzell-abgeleiteten Systemen für Wirkstoff-Screenings
Die Möglichkeit, große Mengen an Motoneuronen und andere Krankheits-relevanten Zellen aus Stammzellen zu züchten, ermöglicht es Wissenschaftlern, tausende von Wirkstoffen zu testen, die bei der Behandlung von MND zur Anwendung kommen könnten. Dies könnten gänzliche neue Wirkstoffe sein, aber auch solche, die bereits für die Anwendung im Mensch zur Behandlung anderer Krankheiten zugelassen sind. Auf diese Art könnten “alte Wirkstoffe” schnell für die Behandlung von MND wiederverwendet werden, da man diese direkt in klinischen Studien anwenden kann, ohne vorher langwierige und teure präklinische Studien durchführen zu müssen. Zudem eröffnet die iPS-Technologie möglicherweise einen Zugang für die Behandlung von MND mit Hilfe der sogenannten Präzisionsmedizin, bei der die Therapie auf einen einzelnen Betroffenen maßgeschneidert wird, die wiederum abhängig von der Reaktion seiner Zellen auf eine bestimmte Behandlung im Labor ist.
3. Die Verwendung von Stammzellen als Therapie für MND?
Nach wie vor stellt die Nutzung von Stammzell-abgeleiteten Nervenzellen als Zellersatztherapie zur Behandlung von MND eine enorme konzeptionelle, technische und ethische Herausforderung dar. Einer der Gründe liegt in der Komplexität mit der Nervenzellen untereinander in Schaltkreisen vernetzt sind. Zudem müssen Ersatzzellen in der Lage sein, die korrekten funktionalen Verbindungen mit den verbleibenden Zellen herzustellen. Diese komplexen Schaltungen wurden ursprünglich über viele Jahre hinweg durch „motorisches Lernen“ von einem Individuum entwickelt und verfeinert, um dann feinste Bewegungen auszuführen zu können. Jede neue Zelle müsste “lernen” eine sinnvolle Rolle im Schaltkreis zu spielen ohne dessen Bestimmung durcheinander zu bringen. Wie in jedem komplizierten Netzwerk gibt es auch in diesem Fall viele Dinge, die schief gehen können. Wie bereits oben genannt, tragen außerdem viele Faktoren zur Neurodegeneration bei MND bei, unter anderem eine potentiell toxische Zellumgebung. Transplantierte Zellen, egal wie gesund sie ursprünglich sind, könnten unter denselben Bedingungen ebenfalls einfach absterben. Eine alternative Verwendung für menschliche Stammzellen bei MND könnte die Transplantation von Zellen sein, die das Überleben und die Funktion der verbleibenden Motoneurone unterstützen und/oder deren Umgebung positiv beeinflussen. Wissenschaftler hoffen auf diese Art motorische Signalwege vor weiteren Schädigungen zu schützen und so ihr Leben zu verlängern. Dies wiederum würde den klinischen Verlauf der MND verlangsamen. Diese Idee lässt sich konzeptionell eher durchführen und derzeit werden verschiedene Arten von Stammzellen für diese Anwendung untersucht.
Derzeit werden Stammzellen im Zusammenhang mit MND hauptsächlich dazu benutzt, die Krankheit zu simulieren. Die Transplantation von Stammzellen ist weiterhin ein Forschungsweg der Zukunft. Pilotstudien deuten an, dass das Verfahren sicher ist und möglicherweise sogar von Nutzen ist. Dies muss jedoch noch in größeren Kohorten von Menschen mit MND bestätigt werden. Klinische Studien für MND treffen auf dieselben, wohlbekannten Herausforderungen, die für alle Krankheiten gelten, die sich jedoch zusätzlichen mit den ethischen Bedenken der Rekrutierung von Menschen mit einer kurzen Überlebensprognose, die dringend nach einer Behandlung suchen, auseinander setzen müssen. Weiterhin gibt es zusätzliche Bedenken, dass der “Goldstandard” für das Design klinischer Studien (inklusive der Randomisierung von Behandlungen für verschiedene Gruppen, der Doppel-Verblindung und die Anwendung von Placebos) für manche Studien, an denen Menschen mit MND beteiligt sind, einfach nicht praktikabel oder ethisch vertretbar sind. Dies verringert von Natur aus das Vertrauen in die Ergebnisse solcher Studien. Derzeitige klinische Studien zielen darauf ab, sowohl die beste Stammzellart, die Übertragungsmethode, als auch die effektive und sichere Dosierung zu bestimmen.
Es ist wichtig anzumerken, dass ein positiver Effekt von Stammzell-basierten Therapien zur Behandlung von MND trotz vielversprechender Ergebnisse in Tierversuchen noch nicht erwiesen ist.
Mesenchymale Stromazellen (MSC) sind adulte Zellen, die einfach aus dem Knochenmark gewonnen und die man dann in großen Mengen im Labor wachsen lassen kann. Diese Zellen setzen Faktoren frei, die das Immunsystem unterdrücken können. Infolgedessen stellen sie potentiell vielversprechende Kandidaten für zellbasierte Therapien dar, die helfen könnten, die Immunantwort von Menschen mit MND zu regulieren. Zusätzlich können diese Stammzellen im Labor in MSC-NTF (neurotrophische Faktoren-sekretierende MSCs) umgewandelt werden. Diese spezialisierten Zellen können Wachstumsfaktoren produzieren, die das Überleben von Nervenzellen unterstützen.
Untersuchungen am Menschen haben in Phase-I-Studien (Phase-I ist eine klinische Studie, die sich auf die Beurteilung der Sicherheit einer Behandlung konzentriert) gezeigt, dass die Transplantation von MSC in Menschen mit ALS unter Verwendung verschiedener Übertragungsmethoden (Injektionen ins Rückenmark oder ins Blut), keine schädlichen Folgen nach sich zieht. 2016 wurde die Transplantation von MSC-NTF Zellen in einer klinischen Phase-II Studie (Beurteilung, ob eine Behandlung nach der Etablierung der Sicherheit einen klinischen Nutzen hat) von einem US-amerikanischen Unternehmen namens Brainstorm Cell Therapeutic getestet um dessen Sicherheit und Wirksamkeit in einer größeren Gruppe zu bewerten von Menschen mit MND. Hierbei sollte die Sicherheit und Wirksamkeit in einer größeren Gruppe von Menschen mit ALS getestet werden. Die Studie zeigte, dass diese Art Stammzellen sicher sind, wenn sie in den Arm und das Rückenmark injiziert werden, und dass das Fortschreiten der Krankheit bei einigen Patienten verlangsamt wurde (ClinicalTrials.gov NCT02017912). Derzeit findet eine größere klinische Phase-III Studie (Prüfung der klinischen Wirksamkeit der Behandlung an einer viel größeren Patientengruppe) statt (Clinicaltrials.gov NCT03280056).
Neurale Stammzellen sind spezialisierte Stammzellen, aus denen alle Zelltypen des Nervensystems hervorgehen können. Im gesunden Gehirn unterstützen Gliazellen die Nervenzellen und sind aktiv an neuronalen Funktionen beteiligt. Bei Menschen mit MND hingegen verlieren die Gliazellen diese kritische Aufgabe und wirken sogar schädlich auf Motoneurone. Transplantierte neurale Stammzellen bieten die Möglichkeit, die potentiell schädliche Umgebung der Motoneurone zu modifizieren. Studien im Labor an ALS-Modellen der Ratte haben gezeigt, dass die Injektion von neuralen Stammzellen ins Rückenmark das Überleben der Motoneurone am Ort der Transplantation erhöhte. Frühe Studien, bei denen neurale Stammzellen in Menschen mit ALS transplantiert wurden haben gezeigt, dass dies ohne grössere Nebeneffekte machbar ist. Manche Empfänger berichteten einen verlangsamten Krankheitsverlauf oder eine klinische Verbesserung (ClinicalTrials.gov NCT01348451). Allerdings müssen diese sekundären, positiven Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden, da an dieser Phase-I “open-label” Sicherheitsstudie nur eine kleine Anzahl Personen teilnahm. An einer Phase-II Studie, die von einer Firma namens NeuralStem Inc. durchgeführt wird, nehmen 18 Personen mit ALS teil (ClinicalTrials.gov NCT01730716). Sie soll bestätigen, dass die Transplantation dieser Zellen sicher ist. Der Nutzen einer solchen Behandlung wird allerdings immer noch untersucht.
Zusätzlich zu neuralen Stammzellen, können auch Glia-Vorläuferzellen und neurale Vorläuferzellen nach einer Transplantation Gliazellen bilden. Insbesondere neurale Vorläuferzellen sind so manipuliert worden, dass sie dauerhaft einen Wachstumsfaktor (glial cell line-derived neurotrophic factor, GDNF) erzeugen, um ihre unterstützende Wirkung auf Motoneurone noch zu steigern. Die Transplantation dieser beider Zelltypen in Nager-Modelle von ALS resultierte in einer erhöhten Überlebensrate von Motoneuronen, was wiederum zu einem verbesserten Bewegungsablauf und Überlebensspanne führte. Die Transplantation dieser Stammzellen befindet sich derzeit in den frühen Stadien von klinischen Phase-I Studien (ClinicalTrials.gov NCT02943850).
Schlüsselphasen der klinischen Forschung
Präklinische Studien | Labortests zur biologischen Wirksamkeit und Toxizität einer neuen Behandlungsmethode mit kultivierten Zellen und nicht-menschlichen Tierarten. |
Klinische Phase-I Studien
| Tests zur Sicherheit und Verträglichkeit eines neuen Wirkstoffs oder einer neuen Behandlungsmethode bei einer kleinen Anzahl gesunder, menschlicher Freiwilliger, um einen Dosierungsbereich oder eine Technik zu ermitteln. Diese “First-in-human” Studien werden manchmal direkt bei Menschen mit MND durchgeführt, da die Maßnahme zu invasiv ist, um sie in gesunden Freiwilligen zu testen. |
Klinische Phase-II Studien
| Tests zur Bestimmung der biologischen Wirksamkeit und Sicherheit eines Medikaments oder einer Behandlungsmethode, bei denen festgelegte Dosen oder Techniken bei einer kleinen Anzahl an Menschen mit der entsprechenden Krankheit angewandt werden. |
Klinische Phase-III Studien
| Tests zur biologischen Wirksamkeit, therapeutischen Wirksamkeit und Sicherheit eines Medikaments oder einer Behandlungsmethode bei einer großen Anzahl an Menschen mit der entsprechenden Krankheit. Der Goldstandard ist eine multizentrische, randomisierte, doppelt verblindete und placebokontrollierte Studie. In der Regel ist es ein zentrales Ergebnis, zu testen, ob die neue Behandlung vorteilhafter ist als bestehende Behandlungen. |
Es ist zu beachten, dass es (in den USA) von 5000 neuen Medikamenten lediglich 1 schafft, von der Arzneimittelbehörde anerkannt zu werden. Der gesamte Prozess bis zum klinischen Einsatz dauert 12-18 Jahre und kostet mehr als 1 Milliarde US- Dollar.
Glossar der Abkürzungen und Definitionen
ALS
| Amyotrophe Lateralsklerose (in den USA wird “Lou Gehrig’s Krankheit” synonym verwendet)
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Axon
| Der lange, dünne Fortsatz einer Nervenzelle, der elektrische Signale weg vom Zellkörper zu einer benachbarten Nervenzelle oder einem Zielorgan /Zielgewebe (z.B. Muskel) leitet. |
CDM
| Degenerative Myelopathie großer Hunderassenn. Eine natürlich auftretende neurodegenerative Erkrankung in Hunden mit genetischen, klinischen und pathologischen Gemeinsamkeiten mit ALS im Menschen. |
Erbliche ALS | Gleichbedeutend mit “familiäre ALS; eine Form von ALS, die eine bestimmte erbliche Ursache hat, die von einer Generation zur nächsten vererbt werden kann. |
Familiäre ALS
| Gleichbedeutend mit “vererbliche ALS; eine Form von ALS, die eine bestimmte erbliche Ursache hat, die von einer Generation zur nächsten vererbt werden kann. |
Glia-Vorläuferzelle
| Eine Vorläuferzelle, die nur in die verschiedenen Arten von Gliazellen differenzieren kann. |
Gliazelle
| Ein unterstützend wirkender Zelltyp des Nervensystems, der eine wichtige Rolle in Gesundheit und Krankheit spielt. Der Großteil der Gliazellen im ZNS stellen Astrozyten, Oligodendrozyten und Mikroglia dar. |
GRP
| Vorläuferzelle, welche auf die Differenzierung in die verschiedenen Typen von Gliazellen eingeschränkt ist (glial restricted progenitor).
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iPS Zelle
| Eine pluripotente Stammzelle, die durch zelluläre Reprogrammierung - der erzwungenen Expression von Pluripotenz-Genen - künstlich aus einer nicht-pluripotenten Zelle (z.B. einer Hautzelle) gewonnen wurde. |
iPS-Zelle
| eine pluripotente (undifferenzierte) Stammzelle die künstlich durch Reprogrammierung - durch Expression von Pluripotenz-Faktoren - aus einer nicht-pluripotenten Zelle (z.B. einer Hautzelle) hergestellt wurde.
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Lähmung | Der Verlust des Vermögens, Bewegungen einzuleiten oder auszuführen. |
MND
| Motoneuronenkrankheit. Eine neurologische Krankheit, bei der Motoneurone in Gehirn und Rückenmark degenerieren, was zu Muskelschwäche, Bewegungseinschränkungen und Sprach-, Schluck- und Atemstörungen führt. |
Motoneuron | Eine elektrisch aktive Zelle, die eine Rolle die bei der Bewegungssteuerung durch Aktivierung von Muskelzellen eine Rolle spielt.
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Motorische Endplatte
| Die Synapse zwischen einem peripheren Motoneuron und einem Muskel, an der elektrische Impulse von einem Motoneuron an den Muskel übermittelt werden, um Bewegungen zu kontrollieren. |
Multipotent | Eine multipotente Stammzelle (z.B. neurale Stammzelle) ist in der Lage, sich zum einen selbst zu erneuern und zum anderen in eine begrenzte Anzahl von Zelltypen zu differenzieren. Vorläuferzellen sind üblicherweise multipotent. |
Mutation
| Im Zusammenhang mit Genetik bedeutet dies eine Veränderung in der DNA, die für ein Gen kodiert, dessen Information in ein Protein übersetzt wird. Manche Mutationen sind harmlos und verursachen keine Krankheit. Andere hingegen können die Struktur und Funktion eines Proteins dramatisch ändern oder verhindern, dass es überhaupt erst gebildet wird. Beides kann dazu führen dass seine Funktion unterbrochen ist und klinische relevante Konsequenzen entstehen. |
Myelin
| Myelin ist die fetthaltige Scheide (produziert von Oligodendrozyten im ZNS und Schwann-Zellen im PNS), die neuronale Axone umwickelt. Myelin spielt eine Rolle bei der Unterstützung und dem Schutz neuronaler Funktionen und ist ein kritischer Bestandteil der schnellen Weiterleitung von Signalen. |
Nervenzell-Degeneration (Neurodegeneration)
| Der fortschreitende Verlust der Struktur und Funktion von Neuronen und/oder Nerven, der im Endeffekt zu deren Absterben führt. |
Nervenzelle (Neuron)
| Eine spezialisierte Zelle, die elektrische Impulse innerhalb des ZNS und PNS überträgt. Es gibt verschiedene Arten von Nervenzellen, beispielsweise Motoneurone oder sensorische Neurone. |
Neurale Stammzelle
| Ein multipotenter Zelltyp, der sowohl sich selbst unbegrenzt erneuern, als auch alle anderen Zelltypen des Nervensystems produzieren kann. |
Neurale Vorläuferzelle
| Eine multipotente Zelle, die sich für eine begrenzte Anzahl von Teilungen selbst erneuern und auch die verschiedenen Zelltypen des Nervensystems bilden kann. Eine neurale Vorläuferzelle ist also eingeschränkter als eine neurale Stammzelle. |
NTF | Neurotropher Faktor. Ein Biomolekül, das das Wachstum, das Überleben, die Differenzierung und den Erhalt von Nervenzellen unterstützt. |
Oligodendrozyt
| Eine Gliazell-Typ, der im ZNS zu finden ist. Seine Hauptfunktion besteht darin, die Myelinscheide zu produzieren, die die Axone von Motoneuronen des ZNS umgibt. |
Open-label (offen, nicht verblindet)
| Design einer klinischen Studie, in der weder der Prüfer noch der Teilnehmer verblindet sind, was die verabreichte Behandlung angeht. Einige ALS-Studien sind notwendigerweise ‘’open-label’’. |
Placebo
| Eine Behandlungskontrolle, die alle Aspekte einer tatsächlichen Behandlung simuliert, dabei aber biologisch oder medizinisch inaktiv ist. Eine Kontrolle, die darauf abzielt, Verzerrungen im Zusammenhang mit dem „Placebo-Effekt“ zu beseitigen, bei denen eine Person eine eigentlich ineffiziente Behandlung als wirksam empfindet oder sogar tatsächliche Verbesserungen feststellbar sind. |
Pluripotent
| Eine pluripotente Zelle ist in der Lage, sich in alle Zelltypen des Körpers zu differenzieren. Eine pluripotente Stammzelle kann sich außerdem unbegrenzt selbst erneuern. |
PNS
| Peripheres Nervensystem. Ein System aus Nerven- und Gliazellen, das Informationen außerhalb von Gehirn und Rückenmark überträgt und diese Regionen elektrisch mit peripheren Geweben, inklusive den Muskeln, verbindet. Ein Motoneuron, das signale vom Hirnstamm oder Rückenmark an die Muskeln überträgt wird manchmal als “unteres Motoneuron” bezeichnet. |
Präzisionsmedizin
| Die an eine individuelle Person maßgeschneiderte Anpassung der Gesundheitsfürsorge. |
Randomisierung | Im Zusammenhang mit dem Design einer klinischen Studien bedeutet dies die zufällige Zuteilung von Probanden in verschiedene Behandlungsgruppen. Dies schließt Gruppen mit ein, die ein Placebo oder keinerlei Behandlung erhalten. Hierdurch wird versucht, die Verzerrung bei der Auswahl zu vermeiden. |
Schwann-Zelle
| Eine Gliazelle des PNS. Ihre hauptsächliche Aufgabe ist es, eine Scheide aus Myelin zu produzieren, die die Axone von Neuronen des PNS umgibt. |
Selbst-Erneuerung | Die Fähigkeit sich selbst zu erneuern. |
SOD1
| Superoxid-Dismutase 1. Ein Enzym mit antioxidativen Eigenschaften. Mutationen im Gen, das für SOD1 kodiert, sind für einen kleinen Anteil der Fälle von familiärer ALS verantwortlich.
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Sporadische ALS
| Eine Form von ALS, der keine bestimmte Ursache zugrunde liegt. |
Synapse | Eine Verbindung zwischen zwei elektrisch aktiven Zellen.
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Verblindung | Im Zusammenhang mit dem Design von klinischen Studien versteht man unter “Verblindung” den Versuch, Quellen möglicher Verzerrungen auszuschließen. Bei einer “einfach verblindete” Studie weiss der Teilnehmer nicht, welche Behandlung er bekommt. Bei einer “doppelt verblindeten” Studie wissen dies weder der Teilnehmer noch der Untersuchende. Die robustesten klinischen Studien sind doppelt verblindet. Einige klinischen MND-Studien mussten zwangsläufig als “open label” also ohne Verblindung durchgeführt werden. |
ZNS | Zentrales Nervensystem. Ein System aus Nerven- und Gliazellen im Gehirn, Hirnstamm und Rückenmark, das viele Funktionen einnimmt, einschließlich der Koordination der peripheren Nervenfunktion. Ein Motoneuron das über eine Synapse mit einem weiteren Motoneuron innerhalb des ZNS, oder mit einem peripheren motorischen Nerv im PNS in Verbindung steht, wird manchmal als “oberes Motoneuron” bezeichnet. |
Dieses Factsheet wurde erstellt von Christine Weber.
2012 überarbeitet von Siddharthan Chandran und Rebecca Devon.
2015 überarbeitet und aktualisiert von Chen Zhao und Nina Rzechorzek.
2016 überarbeitet von Rebecca Devon, Belinda Cupid und Laura Stephenson.
2018 überarbeitet und aktualisiert von Claire Hetherington.
Übersetzung ins Deutsche: Bettina Reichenbach.
Hauptabbildung menschlicher neuraler Stammzellen mit freundlicher Genehmigung der Anne Rowling Regenerative Neurology Clinic (Anne Rowling Klinik für Regenerative Neurologie). Abbildung der Motorneurone, die aus iPS-Zellen hergestellt wurden, von Gist Croft und Mackenzie Weygandt und dem Gewinner des Wettbewerbs "2009 Olympus BioScapes Digital Imaging Competition®".