Multiple Sklerose: Wie können Stammzellen helfen?
Über 400,000 Menschen in der EU haben Multiple Sklerose (MS). Oft kommt es dabei zu verschiedenen Symptomen, zum Beispiel verschwommenem Sehen, starker Müdigkeit, Taubheitsgefühl, Bewegungsverlust und Sprachproblemen. MS ist die häufigste Ursache, die bei jungen Menschen zu einer Behinderung führt, und derzeit gibt es keine Heilung. Wie können Stammzellen bei der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden helfen?
Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem eines Menschen damit beginnt, die Myelinscheiden anzugreifen und zu zerstören. Wenn Neurone ihr Myelin verlieren, können Signale nicht richtig gesendet werden und die Neurone beginnen abzusterben. Dies führt zu den Symptomen von MS.
Stammzellen im Gehirn versuchen von Natur aus, Myelin zu reparieren und zu ersetzen, wenn ein Schaden eintritt, aber das Immunsystem bei MS-Patienten greift das Myelin von Neuem an.
Zurzeit sind noch keine Zellersatzbehandlungen für MS verfügbar, aber Forschung darüber, wie Stammzellen dazu verwendet werden können, das Immunsystem eines Patienten „zurückzusetzen“, haben vielversprechende Ergebnisse gezeigt.
Forscher möchten MS mithilfe von Stammzellen untersuchen und Wege finden, Myelinschäden zu verhindern und/oder zu reparieren.
Einige Studien untersuchen, wie unter Einsatz von Chemotherapie das Immunsystem einer Person zerstört werden kann, um danach mithilfe von Stammzellen ein neues Immunsystem aufzubauen, das kein Myelin angreift. Dieses Vorgehen hat in klinischen Studien positive Ergebnisse gezeigt und ist nun als Therapie für Patienten mit schubförmiger MS verfügbar, die nicht gut auf die besten verfügbaren krankheitsmodifizierenden Behandlungen angesprochen haben. Die Anwendung dieser Behandlung ist aufgrund der gefährlichen Nebenwirkungen eingeschränkt.
Forscher untersuchen Behandlungen und Medikamente, die die Fähigkeit von Hirnstammzellen Myelin auf natürliche Weise zu reparieren, nutzen und möglicherweise fördern können.
Wissenschaftler versuchen auch, Stammzellbehandlungen zu entwickeln, mit deren Hilfe Nerven ersetzt werden können, die durch verschiedene neurologische Erkrankungen wie MS zerstört wurden.
Alle Arten von Autoimmunerkrankungen sind schwer zu behandeln, weil das Immunsystem die eigenen Zellen eines Patienten angreift. Das Immunsystem völlig zu blockieren ist unmöglich, da der Patient dann keine Infektionen mehr bekämpfen kann.
Eine weitere Herausforderung bei der Entwicklung von Behandlungen für MS ist, dass es kein einheitliches Erklärungsmuster dafür gibt, weshalb das Immunsystem einer Person damit beginnt, die Myelinscheide anzugreifen. Der Auslöser, der die Krankheit verursacht, könnte bei jedem Patienten ein ganz anderer sein.
Wissenschaftler verstehen immer noch nicht ganz, wie Myelinscheiden vom Nervensystem gebildet werden, was die Bemühungen, eine Behandlung zu entwickeln, die die Myelinscheiden repariert, deutlich erschwert.
Im gesunden Körper leiten Nervenzellen Nachrichten zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers; dadurch können wir sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen, balancieren und uns bewegen. Multiple Sklerose ist eine Krankheit, die die Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark beschädigt. Der Grund dafür ist, dass das Immunsystem des Körpers die eigenen Nervenzellen angreift, und diese dann nicht mehr richtig funktionieren können.
Die Nervenzelle ist von einer schützenden Isolationsschicht, dem Myelin umhüllt. Das sorgt dafür, dass die Reizleitung einwandfrei und schnell funktioniert. Wenn das Myelin beschädigt ist, kann die Zelle Nachrichten nicht mehr richtig leiten, da die Signale langsamer geleitet werden und oft unterwegs verloren gehen. Das ist bei Multipler Sklerose der Fall. Je nachdem welche Nerven beschädigt sind, leiden die Patienten an unterschiedlichen Symptomen, die meistens Schwierigkeiten beim Laufen oder Fühlen, Blasen- oder Darmprobleme und Müdigkeit beinhalten. Diese Symptome treten für eine Zeit lang auf (auch Schub genannt), und verbessern sich dann wieder (Remission), oft bis zum Normalzustand, da der Körper das geschädigte Myelin reparieren kann. Wenn das Myelin nicht ausreichend repariert wird, kann es passieren, dass die Nervenzellen selbst beschädigt werden, dann fangen sie an zu degenerieren und hören irgendwann ganz auf zu funktionieren. Mit dem Fortschreiten der Krankheit sind mehr und mehr Nervenzellen betroffen und führen zu immer größer werdender Behinderung (progressive MS).
Gegenwärtig gibt es keine Heilung für Multiple Sklerose, aber es ist möglich, mit Medikamenten, Physiotherapie und Bewegung die Symptome zu behandeln und die Anzahl der Schübe zu reduzieren. Diese Behandlungen zielen darauf ab, den Patienten zu helfen, mit den Symptomen zurechtzukommen oder zu versuchen, die Beschädigung der Nervenzellen zu verhindern indem sie das Immunsystem davon abhalten das Myelin und die Nervenzellen anzugreifen. Sind aber die Nervenzellen bereits beschädigt, ist keine Behandlung mehr möglich, da die Schädigung irreversibel ist. Forscher hoffen, dass Stammzelltherapien neue Möglichkeiten bieten, sowohl die Schädigung der Nervenzellen zu verhindern, als auch bereits eingetretene Schädigungen zu reparieren.
Stammzellen spielen eine Rolle bei den regelmäßigen Reparaturvorgängen im Körper – sie produzieren neue Zellen um die beschädigte oder abgestorbene Zellen zu ersetzen. Es gibt viele verschiedene Arten von Stammzellen, und Wissenschaftler erforschen mehrere Möglichkeiten, wie diese genutzt werden können, um neue Behandlungen für Multiple Sklerose zu entwickeln.
- Schaden verhindern: Es ist möglich, verschiedene Arten von Stammzellen zu benutzen, um das Immunsystem zurückzusetzen (Immunmodulation). Das Ziel ist es, das Immunsystem davon abzuhalten die Nervenzellen anzugreifen, oder den Schaden einzugrenzen.
- Schaden reparieren: Stammzellen können vielleicht helfen, die beschädigte Myelinschicht zu reparieren. Das “Remyelinisieren” von Nervenzellen führt dazu, dass die Zellen wieder richtig funktionieren können. Dadurch wird eine weitere Degeneration der Nerven verhindert. Forscher hoffen, dass in Zukunft Stammzellen dazu benutzt werden können, degenerierte Nerven neu zu züchten. Dies ist aber sehr schwierig.
- Entwicklung neuer Medikamente: Stammzellen können benutzt werden um Nervenzellen im Labor zu züchten. Diese Zellen können dann verwendet werden um herauszufinden was bei Multipler Sklerose passiert, und um neue Medikamente zu testen.
Diese verschiedenen Möglichkeiten haben unterschiedliche Vorteile und könnten nützlich sein, um die verschiedenen Verlaufsformen oder Krankheitsstadien von MS zu behandeln.
Blutstammzellen
Blutstammzellen kommen im Knochenmark vor. Sie bilden zum einen verschiedene Arten von Blutzellen, aber auch zum Immunsystem gehörende Zellen, die bei MS die Schädigung an der Myelinschicht verursachen. MS Patienten haben Eigenblut-Infusionen bekommen, um zu versuchen die Grundeinstellung des Immunsystems wiederherzustellen. Die vorhandenen Immunzellen dieser Patienten werden zuerst mit Chemotherapie (Behandlung mit starken Medikamenten) abgetötet. Blutstammzellen aus dem Knochenmark dieser Patienten werden dann in den Blutkreislauf injiziert mit dem Ziel, neue Immunzellen zu generieren, die das Nervensystem nicht angreifen. Diese Methode hat bereits Patienten mit schubförmiger MS geholfen, aber nicht solchen mit progressiver MS. Es ist ein risikoreiches Verfahren und ist wegen der Suppression des Immunsystems, die Infektionen wahrscheinlicher machen, mit einer Todesrate von 1-2% verbunden. Diese Therapie wird daher nur für Patienten angewandt, die an einer hochaktiven Form der Multiplen Sklerose leiden und die nicht auf die besten verfügbaren Medikamente ansprechen.
Mesenchymale Stammzellen
Mesenchymale Stammzellen (MSCs) kommen im Knochenmark vor. Sie bilden normalerweise Knochen, Knorpel und Fettzellen. Forscher untersuchen, ob mesenchymale Stammzellen helfen können, das Immunsystem neu zu trainieren, so dass es keine Nervenzellen angreift. Weiterhin wird untersucht, ob sie nützliche Chemikalien produzieren können, um bei der Myelinreparatur zu helfen. Studien an Tieren zeigen vielversprechende Ergebnisse und erste klinische Studien an Patienten finden jetzt statt um zu sehen, ob diese Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind.
Im Gehirn gibt es Stammzellen, die neurale Stammzellen genannt werden. Kürzlich wurde gezeigt, dass das Hinzufügen von zusätzlichen neuronalen Stammzellen in Nagergehirnen einen ähnlichen Effekt hat wie mesenchymale Stammzellen dahingehend dass sie nützliche Botenstoffe produzieren, die die Reparatur des Gehirns unterstützen. Die Gehirn-eigenen neuronalen Stammzellen sind jedenfalls aktiv an der Reparatur des Myelins nach Beschädigung beteiligt, aber dieser Prozess ist ineffizient und ist nicht ausreichend, um den ganzen Schaden, der durch MS über die Zeit verursacht wird, zu beheben. Forscher hoffen Wege zu finden, wie diese Gehirn-eigenen neuralen Stammzellen eine bessere und effizientere Reparatur durchführen können. Der Wiederaufbau der Myelinschicht würde es den Nervenzellen ermöglichen, wieder Nachrichten zu schicken und würde auch der Degenerierung der Nervenzellen entgegenwirken.
Aktuelle Forschungen konzentrieren sich darauf, die Mechanismen des Reparaturprozesses herauszufinden und Medikamente zu entwickeln, die diesen Vorgang mit den schon vorhandenen Zellen im Gehirn des Patienten verbessern können. Langfristig ist es vielleicht möglich, neurale Stammzellen, Nervenzellen oder Myelin-formende Zellen in das Gehirn zu transplantieren. Dieses wäre aber ein sehr komplexer Prozess, und die neuen Zellen müssten vor der Transplantation zuerst im Labor gezüchtet werden, zum Beispiel aus embryonalen oder induzierten pluripotenten Stammzellen, wie unten beschrieben.
Embryonale und induzierte pluripotente Stammzellen können jede Körperzelle bilden. Forscher haben Methoden entwickelt, wie diese Stammzellen kontrolliert werden können, um sich zu menschlichen Nervenzellen und Myelin im Labor zu entwickeln. Diese gezüchteten Nervenzellen treffen jedoch noch nicht alle strengen Sicherheits- und Reinheitsgradvorschriften, die für eine Transplantation vorgeschrieben sind, aber sie geben Forschern eine wertvolle Möglichkeit, die Probleme, die bei MS auftreten, zu erforschen. Diese Zellen können auch nützlich sein, um die Effekte von potentiellen neuen Medikamenten zu testen. Das Durchführen von Studien an lebenden Zellen könnte den Prozess der Medikamentenentwicklung beschleunigen, da frühe Stadien einer Zellstudie wichtige Informationen liefern, bevor Forschung an Tieren notwendig wird.
Manche MS patienten, die einen aggressiven, schubförmigen Krankheitsverlauf zeigen und nicht auf unsere besten Medikamente ansprechen, können nun mit einer Kombination aus Chemotherapie und Ersatztherapie mit Blutstammzellen behandelt werden. Jedoch ist dies derzeit eingeschränkt, da es hohe Risiken gibt, die schwerer wiegen als der Nutzen für viele Patienten. Einige andere Stammzellarten werden derzeit untersucht um herauszufinden, ob sie in Zukunft einen eventuellen Nutzen für die Behandlung von einer größeren Gruppe von MS Patienten haben: Stammzellen können möglicherweise das Myelin an Nervenzellen reparieren oder langfristig vielleicht sogar dazu benutzt werden, um komplett neue Nervenzellen zu züchten. Stammzellen werden höchstwahrscheinlich MS nicht heilen, aber sie können zukünftig vielleicht den Krankheitsverlauf verlangsamen, anhalten oder sogar rückgängig machen. Es ist aber noch viel Forschung notwendig um festzustellen, ob die unterschiedlichen Stammzellarten genügend Grundlagen für sichere und effektive Behandlungen für MS bieten, und wie diese Zellen verwendet werden sollen.
International MS Society Public Information Booklet on Stem Cells
Information on MS clinical trials from the National Multiple Sclerosis Society in the USA
The European Multiple Sclerosis Platform
BBC news film clip describing one research approach to MS
Multiple Sclerosis Discovery Forum - includes regular roundups of MS research findings
Dieses Datenblatt wurde von Claire Keith geschrieben.
2012 überprüft von Anna Williams und Gianvito Martino.
2015 und 2018 überprüft und aktualisiert von Anna Williams.
Übersetzung ins Deutsche: Jolanda Münzel und Luise Seeker.
Abbildung der neuralen Mausstammzelle: Gianvito Martino. Andere Zellabbildungen: Anna Williams.