Identität und Reprogrammierung von Zellen

Unser Körper enthält mehrere Hundert verschiedene, spezialisierte Zelltypen. Jede Zelle hat, abgestimmt auf ihre Aufgaben, ganz bestimmte Merkmale. Und doch enthalten alle Zellen in unserem Körper den gleichen Satz Gene, ihre biologische „Bedienungsanleitung“. Was also führt dazu, dass alle Zelltypen unterschiedlich sind? Und lassen sich Zellidentitäten vielleicht sogar kontrollieren oder ändern? Wie ließe sich das nutzen, um neue medizinische Ansätze zu entwickeln?

Was unterscheidet eine Hautzelle von einer Blutzelle?

Die spezialisierten Zellen in unserem Körper, wie Blut-, Haut- und Muskelzellen, entwickeln sich aus Stammzellen. Diese Stammzellen können sich teilen und mehr Zellen ihrer Art erzeugen (Selbsterneuerung), und sich differenzieren, also zu den spezialisierten Zellen der verschiedenen Gewebearten weiterentwickeln. Stammzellen der Haut können sich zum Beispiel in spezialisierte Hautzellen differenzieren, Blutstammzellen in spezialisierte Blutzellen. 

Die Differenzierung von der Stammzelle zur vollständig spezialisierten Zelle umfasst viele Entwicklungsschritte. An einem bestimmten Fortschrittspunkt dieses Prozesses entwickelt sich die Zelle dann zwingend zu einer bestimmten Gewebezelle und schließlich zu einer spezialisierten Zelle. Zuerst wird eine Zelle vielleicht den Blut-Vorläuferzellen zugeordnet, später spezialisiert sie sich weiter und wird zur weißen Blutzelle (Leukozyt) oder roten Blutzelle (Erythrozyt) mit genau festgeschriebenen Aufgaben. Nach erfolgter Spezialisierung wandelt sich die Zelle nicht mehr in eine Herz-, Gehirn- oder andere Zelle um, solange sie in ihrer normalen Umgebung (in diesem Fall im Blut) bleibt. Sie bildet nur die Eigenschaften und Fähigkeiten einer Blutzelle aus, nicht die einer Herzzelle. Und doch enthält jede Zelle im Körper den gleichen Satz Gene, quasi ein dickes Bedienungshandbuch für alles, was die Zelle potenziell tun könnte. Was also ist der Unterschied zwischen der einen spezialisierten Zelle und einer anderen?

Nicht alle in der Zelle enthaltenen Gene sind aktiv. Proteine, so genannte Transkriptionsfaktoren, interagieren mit den Genen, schalten sie ein und aus oder machen sie mehr oder weniger aktiv innerhalb der Zelle. Eingeschaltete Gene nennt man „exprimiert“, denn sie werden von den Zellen als Vorlage zur Produktion von Proteinen verwendet. Die von der Zelle angesammelten Proteine beeinflussen ihrerseits Größe und Funktionen der Zelle.

Obwohl eine Herzzelle also die gleichen Gene besitzt wie eine weiße Blutzelle, exprimiert sie nur diejenigen davon, welche mit Eigenschaften von Herzzellen verknüpft sind. Diese Prozesse müssen im Körper sehr sorgfältig geregelt werden. Deshalb ändert eine Zelle, nachdem sie einmal einen bestimmten Weg eingeschlagen hat, normalerweise nie mehr die Richtung. Theoretisch jedoch könnten die inaktiven Gene, die zum Beispiel eine Herzzelle ausmachen würden, künstlich bei einer weißen Blutzelle aktiviert werden – diese bekäme eine neue Identität als Herzzelle mit den entsprechenden Eigenschaften. Auf diesem Konzept basieren spannende neue Forschungsarbeiten zum „Cell Fate Reprogramming“ (Reprogrammierung des Zellschicksals).

Einfach ausgedrückt, erhält eine Zelle ihre Identität, weil die Gene exprimiert werden, welche für die speziellen Funktionen des Zelltyps nötig sind, und Gene für andere Zelltypen inaktiv gehalten werden. Dies ist nicht nur während der Zellentwicklung und Festlegung der Identität wichtig, sondern auch später, damit die adulte Zelle weiterhin ordnungsgemäß funktioniert.

Die Identität einer Zelle wird durch die Expression bzw. Aktivität einzelner Gene ihrer DNA und die daraus folgende Produktion bestimmter Proteine festgelegt. Diese Expressionsmuster folgen während der Zellentwicklung einer komplexen Kaskade, bei der zeitliche Abstimmung und Dosierung der erzeugten Proteine extrem wichtig sind. Die vorbestimmte Eigenschaft einer Zelle, eine bestimmte Identität anzunehmen, nennen Wissenschaftler das Zellschicksal. Das Schicksal einer Zelle kann durch grundlegende Vorgänge entschieden werden wie Wachstum, Interaktion mit anderen Zellen, umgebendes Gewebe und Migration. Es lässt sich auch verändern.

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Zum Beispiel haben Thomas Graf und seine Forschungsgruppe in Spanien Verfahren zur Änderung der Identität einer ausdifferenzierten Blutzelle entwickelt. Sie sind in der Lage, reife Blutzellen (B-Zellen) zu entnehmen und in eine andere Art von Blutzellen umzuwandeln, die so genannten Makrophagen. B-Zellen sind wichtige Bestandteile des Immunsystems und schützen den menschlichen Körper durch die Produktion von Antikörpern gegen Eindringlinge wie Bakterien und Viren. Sie gehören einer Zellfamilie an, die als lymphatische Linie bekannt ist. Makrophagen dagegen sind Teil einer anderen Zellfamilie, der myeloischen Linie. Sie sind sehr vielseitige Abwehrzellen, die Krankheitserreger verdauen, andere Immunzellen aktivieren und auch bei der Wundheilung helfen können. Graf und seine Gruppe fanden heraus, dass sich die Transkriptionsfaktorproteine, welche während der normalen Entwicklung spezialisierter Zellen das Zellschicksal steuern, auch auf andere Weise nutzen lassen: zur Umwandlung voll entwickelter B-Zellen in Makrophagen. Indem sie einen Transkriptionsfaktor, der für die Makrophagenentwicklung wichtig ist, in eine B-Zelle einschleusten, konnten die Forscher die frühere Identität dieser Zelle überschreiben. Als Reaktion auf diesen Transkriptionsfaktor wurden die normalerweise in B-Zellen vorhandenen Gene und Proteine abgeschaltet, und andere, für Makrophagen typische Gene in der Zelle aktiviert, so dass sie tatsächlich ihre Identität änderte. Das hierfür verwendete Verfahren nennt sich Linien-Reprogrammierung oder Transdifferenzierung.

Die Arbeit von Graf baut auf Entdeckungen anderer Forschungsgruppen auf, die Wege gefunden haben, um die Zellidentität zu manipulieren. Dazu gehört die frühe Forschung zum Klonen ebenso wie die Entdeckung, dass ein bestimmter, in der Haut vorkommender Zelltyp namens Fibroblasten sich in Muskelzellen umwandeln lässt. Die Arbeit von Graf und anderen Forschern zeigt, dass eine Umwandlung von Zellen eng verwandter Arten möglich ist, etwa zwischen verschiedenen Arten von Blutzellen. Kürzlich haben weitere Entdeckungen verschiedener Forschungsgruppen ergeben, dass sogar entfernt verwandte Zellen verschiedener Gewebsarten sich untereinander umwandeln lassen. Manche Forscher spekulieren, dass sich vielleicht jede spezialisierte Zelle in jede beliebige andere umwandeln lässt, wenn nur die richtigen „Reprogrammierungsfaktoren“, also die richtigen Gene bzw. Proteine bekannt sind. Es ist jedoch noch unklar, ob die Transdifferenzierung die Zellidentität in allen Fällen komplett ändert.

Was kann die Steuerung des Zellschicksals zu neuen medizinischen Behandlungsmethoden beitragen?

Seit dem Aufkommen der regenerativen Medizin suchen Forscher nach Wegen, bestimmte Zelltypen für die Heilung von Krankheiten zu produzieren und zu transplantieren oder geschädigte Zellen im Körper zu reparieren bzw. zu ersetzen. Wenn es gelingt, die Identität von Zellen im Labor auf diese Weise zu steuern und zu ändern, erhält man ein

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  • Die Erforschung von Krankheiten und deren Auswirkungen auf bestimmte Zelltypen
  • Die Testung und Entwicklung von Medikamenten zur Behebung dieser krankhaften Veränderungen
  • Zukünftig die Generierung von Zellen im Labor, um verlorene oder beschädigte Körperzellen zu ersetzen

 

Die Entdeckung, dass voll ausdifferenzierte adulte Stammzellen sich in Zellen umwandeln lassen (auch iPS Zellen genannt), die embryonalen Stammzellen ähneln, eröffnete 2006 interessante neue Möglichkeiten zur Produktion spezialisierter Zellen „auf Bestellung“ im Labor. Bereits heute ist das ein wertvolles Mittel zur Modellierung von Krankheitsprozessen: Im Labor werden spezialisierte, von einer bestimmten Krankheit betroffene Zellen erzeugt, die zur Erforschung der Krankheit oder Suche nach neuen Medikamenten dienen. Die Reprogrammierung oder Transdifferenzierung eines spezialisierten Zelltyps in einen anderen ist ein weiterer Weg in die Richtung, vielleicht zukünftig Zellen „à la carte“ für die medizinische Forschung und Behandlung zu erzeugen. Diese Verfahren werden bereits vereinzelt zur Entwicklung von Therapien für Patienten genutzt, eine Standarttherapie, die auf iPS Zellen beruht, liegt allerdings noch in weiter Ferne.

Hand-drawn illustration of cell reprogramming

2011 gelang es zum Beispiel einer Forschungsgruppe unter der Leitung von Malin Parmar, Hautzellen zu Dopamin produzierenden Nervenzellen zu reprogrammieren. Das Interessante daran: Bei der Parkinson-Erkrankung gehen genau diese Dopamin produzierenden Nervenzellen verloren. Zuvor hatte die Gruppe zur Herstellung der Dopamin produzierenden Zellen embryonale Stammzellen verwendet; die Reprogrammierung bot nun einen weiteren Weg, diese Zellen im Labor zu erzeugen. In einem nächsten Schritt untersuchte die Gruppe, ob es möglich ist, die Phase der Zellkultivierung in Petrischalen zu überspringen und Zellen umzuwandeln, ohne sie erst aus dem Körper zu entnehmen. Inzwischen haben sie es geschafft, Gliazellen (Zellen im Gehirn, die keine Nervenzellen sind) im lebendigen Organismus (in vivo) zu funktionellen Nervenzellen umzuwandeln. Von der klinischen Reife ist dieses Verfahren noch weit entfernt, jedoch konnte die Gruppe um Parmar auf elegante Weise den Nachweis führen, dass es möglich ist, Zellen umzuwandeln, ohne sie zuerst zu isolieren und im Labor zu manipulieren.

Natürlich steckt die Arbeit hierzu noch in den Kinderschuhen, und weitere Forschungsarbeiten sind nötig um abzuschätzen, ob eine Reprogrammierung des Zellschicksals eine sichere Behandlungsmethode für Patienten werden könnte. Dennoch eröffnen diese frühen Erkenntnisse neue Möglichkeiten, eines Tages Patienten mit Zellen zu therapieren, die aus ihrem eigenen Körper stammen.

Hand-drawn illustration of 'Reprogramming Cells for Dummies' book' Wie bei allen wissenschaftlichen Neuentdeckungen wird es dauern, ehe die Verfahren zur Reprogrammierung ihr volles Potenzial entfalten. Trotz der bereits beachtlichen Fortschritte müssen noch entscheidende Herausforderungen überwunden werden. Derzeit werden parallel zwei Methoden  entwickelt: das iPS-Verfahren und die Transdifferenzierung. Beide müssten noch optimiert und laborübergreifend standardisiert werden. Es müssen wirksame, reproduzierbare und risikofreie Methoden für jede Art spezialisierter Zellen entwickelt werden, die anhand dieser Verfahren erzeugt werden sollen. Wirksamkeit und Genauigkeit der Ergebnisse müssen zudem in allen Phasen nach der Transplantation von Zellen in ein Versuchstier oder einen Patienten geprüft werden, und es bedarf klinischer Routineabläufe, damit Ärzte die neuen Behandlungsmethoden gefahrlos und wirksam einsetzen können. Die Wissenschaftler sind zuversichtlich, dass sie anhand eines besseren Verständnisses der molekularen Grundlagen der Reprogrammierung zukünftig in der Lage sein werden, die meisten dieser Probleme zu lösen. Im Zuge der Weiterentwicklung und des besseren Verständnisses der iPS Zellen und der Transdifferenzierung könnte sich auch die Bandbreite der medizinischen Einsatzmöglichkeiten erweitern. Bei weitergehenden Forschungen wird sich wahrscheinlich herausstellen, dass eines der beiden Verfahren öfter eingesetzt wird, als das andere, oder dass sie jeweils für bestimmte Krankheiten oder zur Produktion gewisser Zelltypen besser geeignet sind. Irgendwann kann die Stammzellforschung vielleicht individuell zugeschnittene Behandlungen anbieten, die letztendlich die Probleme von Organknappheit und Abstoßung von Transplantaten lösen, und möglicherweise sogar Therapien für heute unheilbare degenerative Erkrankungen entwickeln.

Dieser Artikel wurde von Christine Weber verfasst, von Austin Smith rezensiert und von Emma Kemp and Jan Barfoot editiert.

Die deutsche Übersetzung wurde im Auftrag des German Stem Cell Network (GSCN) erstellt und von Tobias Cantz rezensiert.

Hauptbild der reprogrammierten Hautzellen mit freundlicher Genehmigung von Malin Parmar, Lund University. Handgezeichnete Illustrationen von Vanessa de Mello, University of Aberdeen. Andere Illustrationen aus dem Film “Cell Fate” von Sergi Esgleas. Fluoreszenz-Mikroskop Bilder der B-Zellen und Makrophagen mit freundlicher Genehmigung von Thomas Graf, Centre for Genomic Regulation, Barcelona.